Jungschlern und Schlernkind © Ingeburg Gurndin
Aus der Bergeerleben-Serie zu den Südtiroler Bergnamen
Bei den Südtiroler Berg- und Flurnamen gibt es zahlreiche Bezeichnungen, die sich auf verschiedene Altersstufen beziehen.
von Johannes Ortner (Bergeerleben 4/2022)
Poppele und Kind
Erblicken Kinder das Licht der Welt, fragen die älteren Geschwister sogleich, wie dies denn vonstatten ginge. In einer ausweichenden Antwort verwiesen Erwachsene dann auf Sümpfe, aus denen sie gezogen, oder auf Felsen, unter denen sie hervorgeholt worden seien. An der Grenze zwischen Tiss und Latsch liegen 3 Felsblöcke, die laut mündlicher Überlieferung im 17. Jahrhundert von den Tisser Wänden heruntergebrochen sind: Es sind die Poppeleknött. Unter ihnen zogen laut mündlicher Überlieferung die Latscher bzw. die Goldrainer die Neugeborenen hervor.
Auch Flur- und Quellnamen mit dem Bestandteil „Kind“ gibt es: z. B. das Kindspiel, eine Wiese bei Schloss Juval, oder das Kindertalele in Pfelders (das Tal war im Sommer von Kindern bevölkert, die dort Schwarzbeeren sammelten), weiters eine Quelle namens Kindlbettwasserle in Jenesien, deren Wasser vielleicht den Wöchnerinnen half, wieder zu Kräften zu gelangen. Kindlbettl ist auch der liebevolle Name für ein kleines Stück Weingut des Obererlachers in Bozen/Leitach.
In Gsies liegt am Bergkamm zwischen den Almtälern von Versell und Tscharnie, unweit der Körlasgruibe auf rund 2.400 Metern das Kinderbettbödenle (mda. s Kíndopëttpëddnle). Als die Verseller eines Sommers bis an die Kammschneide herauf mähten, stand eine Recherin kurz vor der Niederkunft. Als die Wehen einsetzten, gebar sie ihr Kind an diesem Platz, der fortan diesen besonderen Namen trug.
Schlern, Jungschlern, Schlernkind © Ingeburg Gurndin
Rund um den Schlern
Der Schlern, Südtirols Symbolberg, mit seiner reichhaltigen Nomenklatur, hat Nachwuchs bekommen. Das Schlernkind (2.398 m) ist ein mit „Mign“ (so nennt man die Latschenkiefern im Schlerngebiet) bewachsener Felspfeiler in der Nähe der Burgstallkante. Er wurde 1929 erstmals bestiegen (und benannt?).
Bekannter ist der Jungschlern (2.278 m), eine fingerförmige und schmale Hochebene, die westlich aus dem Mull herauszuwachsen scheint, von diesem durch die enge Wolfsschlucht getrennt. Kletterrouten wie der Perathoner-Pfeiler, der Tschurtschenthaler-Weg, der Hundskopf-Kamin sowie die Jungschlernkante führen hinauf auf den Jungschlern, welcher seinem älteren Bruder, dem Schlern, ähnelt, aber eben kleiner, und damit „jünger“ erscheint. Zu ergänzen wäre die mit Bäumen bewachsene Verebnung des „Schlernbauches“ oberhalb der sprudelnden Quelle des Schlernblutes.
Im nahen Tiers kennt man beim Nigerpass den Jungwald (er ist wohl aus einer Aufforstung entstanden, die Bäume sind längst ihrer Jugend entwachsen bzw. wurden 2019 durch den Orkan Vaia geknickt) und am felsigen Tierser Berg im orografisch rechten Tschamintal das Junkbrunntal (mda. Júnkprunntoul, 1858 Jungbrunnenthal). Dieses Tal ist ein begehbarer enger Felsschluff. Ein Jungbrunnen, der ewige Jugend verleiht, ist in diesem wasserarmen Gelände jedoch keiner zu finden. Nach Aussage von Einheimischen könnte der Name aber vom schönen Wasserfall herrühren, der nach Stark-Regenfällen von den Puanertälern bzw. der Bindergufl herausschießt.
„Alte“ und „junge“ Berge
Ein anderer Berggipfel bezieht sich auf den Gegensatz zwischen Jung und Alt. Er betrifft die beiden Kornigl zwischen Ulten und Proveis. Der kleine Kornigl (2.310 m) ist ein langgestreckter, aussichtsreicher Grat oberhalb der Clazner und Rabauer Alm (Malga di Cloz, Malga di Revò) in den Gemeinden Laurein und Proveis. Von den Welschnonsbergern, denen diese Almen gehören, wird der Kornigl (2.310 m) la Vècla, „die Alte“, genannt. Höher, und von der „Alten“ durch die breite Korniglscharte getrennt, ist der Große Kornigl (2.415 m) oder la Giouna, also „die Junge“. Diese ist auch höher und „stärker“. Es könnte sein, dass der kleine oder „alte“ Kornigl der ältere, etabliertere Weideplatz war und dass der junge Kornigl erst später „erschlossen“ wurde. Der deutsche Name Kornigl ist selbst romanisch, nämlich *cornigolo „Hörndl“.
Kornigl (c) Johannes Ortner
Unweit vom Lüsner Joch, bereits zum ladinischen Welschellen gehörig, befindet sich der markante Col dla Vedla (2.100 m; „Bichl der Alten“), ein alter Hexenboden? Jedenfalls nennt sich der Männergesangsverein Welschellen „Cor Col dla Vedla“… Weiter taleinwärts unterhalb des Maurerberges befindet sich der Plan dla Vedla, also der „Altenboden“. In einem anderen Teil Ladiniens, in St. Kassian/Abtei, werden am Rande der Bergmähder von Störes 2 flache Geländesenken Büsc dla Vedla, also „Altenloch“, genannt. In den Orts- und Flurnamen gibt es mancherlei Hinweise auf das Alter, besonders hinsichtlich alter Siedlungsplätze. So könnte der Ortsname Jenesien (1592 Senösi) von vorrömisch *senésja „Altgelände, Altackerareal“ herrühren. In der Mundart heißt Jenesien nach wie vor Zenëisi bzw. Senëisi und die Einwohner sind die Nëisiger! Der Hl. Genesius wurde aufgrund der Klangähnlichkeit erst später in den Ortsnamen eingeblendet. Der indogermanische Wortbestandteil *senbedeutet „alt“, vgl. dazu das Lateinische senex „Greis“, von dem sich die Wörter „Senator“, „Senior“ usw. ableiten. In diese Reihe passt dann auch der Jenesier Flurname Altenberg (Wälder der „Alten“, also der Jenesier) sowie der der an der Straßenabzeigung nach Afing liegende Hof Altensteiner („auf dem alten Stein“; 1473 hoff Alterstain, 1542 Altersteiner). Die äußeren sonnseitigen Äcker von Matsch, hoch über Schluderns, heißen Zanezza, ein Name, der sich von alpenromanisch *senezza „Altfelder“ ableiten lässt. Es handelt sich um Gunstlagen des Getreidebaues in Matsch.
Ferner, Vadret und Alteis
Im Westen Südtirols, besonders im Bereich der vergletscherten Ötztaler, Stubaier und Ortleralpen wird der Gletscher Ferner genannt, in Passeier Fërner (mit geschlossenem /e/). Dieses Wort leitet sich von althochdeutsch ferner „vorjährig“ ab und ist mit Firn „vorjähriger gehärteter Schnee“ verwandt. Viele kennen und verwenden noch die Mundartbezeichnungen fear „entfernt, weit“ oder fert „voriges Jahr“. Der Ferner ist also „alter“ und „ferner“ Schnee. Im romanischen und halbladinischen Sprach- und Kulturraum findet sich der Terminus Vadret (Vadret da Sesvenna heißt der kleine Sesvenna-Gletscher auf Bündnerromanisch) und im Veltlin bzw. im Val di Sole die Vedretta, wie z. B. die Vedretta del Mandrone im Adamello-Massiv oder die Vedretta de la Mare südlich des Cevedale. Dieser Terminus leitet sich von Alpenromanisch védere („alt“) ab und ist eine semantische Gleichung zu unserem Ferner! Eine regionale Besonderheit im Tauferer Tal und in Osttirol ist neben dem älteren Ausdruck Kees „Eis“ der Begriff Alteis, Åltas gesprochen. Mit der Zeit verdunkelte sich der Sinn dieses Wortes und das Toponym veränderte sich zu Althaus. So kennt man nun also die Althausschneide (ursprünglich „Alteisschneide“) am Südgrat der Dreiherrenspitze, das Althauskees (Alteis + Kees, eine „Verdoppelung“ des Eises!) unterm Rauchkofel im Gelltal (Rein in Taufers) sowie die Althausklamme, welche der Möselebach, ein Gletscherbach, in langer Arbeit in das Gestein gefressen hat. Unterm Großen Möseler dehnte sich einst ein weites Eisfeld aus, das Möselekees. Das Gletschertor wandert in großen Schritten seinem Ursprung zu, um in absehbarer Zeit im Nichts zu verschwinden … Das Althaus ist dann kein „altes Eis“ mehr, sondern nur noch alt, weil es nur mehr in den Erinnerungen und auf alten Bildern weiterlebt.