Große Windschar © Karin Leichter
Aus der Bergeerleben-Serie zu den Südtiroler Berg- und Flurnamen
von Johannes Ortner (Bergeerleben 4/2023)
Bewegte Luft ist auf den Bergen „von Natur aus“ allgegenwärtig, denn die hohen Grate und Gipfel sind der Wucht des Windes vollends ausgesetzt.
Im Spätwinter lässt dich eisiger Nordwind die Kälte intensiv spüren („Wind Chill“), an Hochsommertagen verschafft „a frischs Ålm-Liftl“ bzw. „a kialer Luft“ (in der Mundart heißt es tatsächlich „der“ Luft für „Luftzug“!) dem hitzegeplagten Städter angenehme Kühlung. Die Menschen haben schon immer die windausgesetzten „luftigen“ Ecken, Buckel und Bichl „toponymisch“ markiert und dabei besondere „Windstriche“ ausgemacht, welche den Boden austrocknen und im Frühjahr empfindliche Pflanzen schädigen konnten.
Windige Eggen, Bichl und Köfel
Ein gängiger Flurname lautet Windegg („dem Wind ausgesetztes Egg“), der in Südtirol auch einen Gipfel und eine Anhöhe benennt. Das Windegge (2.418 m) bildet das „Dreigemeindeneck“ zwischen Pfalzen (Greinwalden), Gais und Mühlwald. Einer von 3 Kämmen streicht dabei vom Gipfel nach Süden, senkt sich zunächst zur Lahnebacher Scharte, um sich dann zur Windschar (2.354 m), die nicht mit der Windschar am oberen Ende des Mühlbacher Talele zu verwechseln ist (siehe dazu weiter unten!), zu erheben. Die Einheimischen haben diesen Kamm als besonders windausgesetzt wahrgenommen, was in der Namensgebung Eingang fand. Ein weniger bekanntes Windegg (2.680 m) bildet einen Kammabschluss oberhalb der Grauner Vivana-Alp im Obervinschgau. Dieses Windegg liegt genau in der Mitte zwischen dem „Hengst“ im Westen und dem Angerlikopf im Osten. Vom Windegg ist es nur ein kleiner Sprung zum Namentyp Windbichl. Windbichl heißt eine Weinlage beim Unterortl-Hof auf Juval (Gemeinde Naturns), außerdem ein Wohngebiet im Südwesten von Partschins und eine windausgesetzte Kuppe (1.928 m) im Bereich der Waltner Mahder nahe der Römerkehre am Jaufenpass. Am Windbühl mit seinem schönen Bildstock kommt man vorbei, wenn man auf dem Fußweg Nr. 1 von Völser Steg nach Völs hinaufwandert. Auch Höfe tragen den Wind im Namen, z. B. die beiden Windegg Höfe am sonnigen Larcherberg oberhalb von Kuppelwies in Ulten. Noch eine Etage höher befindet sich die Hofstelle Windkofel (1423 der hoff ze Winkchofel, 1557 Stindl Windkofler). Einen weniger bekannten Windkofel gibt es gleich unterhalb der Leiteralm in Vellau (Algund), wo der Sage nach ein Norgg namens Valt in den Felsen gedrückt worden ist. In unmittelbarer Nähe dringt aus den Spalten und Höhlen eines Felssturzgeländes ein kalter Luftstrom („Eisloch“), den man deutlich als „Wind“ spüren kann.
Spitz und Schar
Den Wind im Namen führen noch weitere Berggipfel, z. B. der Windspitz (2.390 m), eine unscheinbare Erhebung zwischen dem Kleinen und Großen Mittager im Skigebiet Meran 2000 (Gemeinde Sarntal). Wer dort unterwegs ist, wenn der „Jaufner“ (Nordwind) bläst, dem wird rasch klar, warum dieser Spitz diesen Namen trägt. Bekannter als der Windspitz ist freilich die Windschar (3.041 m) zwischen dem Mühlbacher Talile (Gemeinde Gais) und Ahornach (Gemeinde Sand in Taufers). Der Felsgipfel ist 1840 als „Windschor“ und um 1900 als „Windschar“ dokumentiert. Der 2. Teil des Namens, die „Schar“, leitet sich vom althochdeutschen Substantiv scara „Abgeteiltes, Abgetrenntes“ ab, somit ist die „Windschar“ nicht als „Windschere“, sondern als „Windteiler“ zu lesen.
Windschnur und Windspiel
Auf einen besonderen, geradezu poetischen Namen für eine dem Wind ausgesetzte Flur stößt man in ganz Südtirol. Es ist die Windschnur. Der Name hat nichts mit einer Schnur zu tun, sondern leitet sich vom mittelhochdeutschen Verb snurren „säuseln, surren, rauschen“ ab, womit Windgeräusche auf lautmalerische Art und Weise umschrieben werden. Folgende Windschnur-Fluren sind bislang in Südtirol bekannt: eine mit Reben bepflanzte Anhöhe direkt bei Schloss Rametz in Obermais/Meran, ein Bauerngut in Griesbruck zwischen Klausen und Gufidaun, eine Wiese beim Gaufen am Brixner Ploseberg, zwei windausgesetzte Wiesenrücken in Lüsen (bei den Höfen Löchl und zu Laseid) und ein markanter Geländesporn (2.204 m) in der Almgegend Falzoare in Pfunders. In Vals (Gemeinde Mühlbach) wird die Häuserreihe bestehend aus Bachler, Gasser und Hauser „die Windschnuire“ genannt, weil dort der „Valler Schartwind“ so richtig durchbläst. Die bekannteste Windschnur Südtirols ist freilich die Hofstelle „in do Windschnuire“ in Niederrasen, in deren Nähe in den 1960er-Jahren ein eisenzeitliches Gräberfeld entdeckt wurde. Einmalig in der Südtiroler Namenslandschaft steht das Rohrer-Windspiel, eine föhrenbestandene Kuppe oberhalb vom Wolfsgrubner See am Ritten, wo eine Ansammlung von Steintrümmern auf eine prähistorische „Wallburg“ hindeutet. In unmittelbarer Nähe davon steht ein geheimnisvoller Menhir – ob dieser vom Eiszeitgletscher oder von Menschen aufgerichtet wurde, muss offen bleiben.
Schutz vor kalten Winden
Empfindliche Rebentriebe mussten vor kalten Nordwinden geschützt werden, dazu errichtete man Steinmauern entlang von Geländekanten. Diese Mauern hatten die Aufgabe, den Wind zu brechen und wurden Windmauern genannt. 2 davon stehen heute noch beim Oberötzbauer und beim Walkner in Dorf Tirol. Zum Windbrechen wurden aber auch Kopfweiden (mundartlich „Feler“) gepflanzt. Ein Weingut unterhalb von Schloss Tirol heißt heute noch Windfeler. Im 19. Jh. lagen die Durchschnittstemperaturen in den Alpen noch um rund 2 Grad niedriger als heute …
Große Windschar (3.041 m) in der Rieserferner Gruppe © Karin Leichter
Zerstörerische Kräfte
Die Auswirkungen einer Windlahn („Staublawine“) und eines Sturmes sind oft lange Zeit in der Landschaft ablesbar. Starkwinde können Wälder entwurzeln und ganze Landstriche verheeren, wie Vaia eindrücklich bewiesen hat. Das Ergebnis einer Windhose wird im Dialekt Windwurf oder Windwerf genannt und hat in Südtirol einige Flurnamen aufgebaut. Am Avazass-Bach zwischen Laatsch und Taufers im Münstertal befindet sich auf knapp 1.600 Meter ein bewaldeter Geländevorsprung, dessen Bäume von einer „Windlahn“ weggeblasen wurden. Daraufhin erhielt die nun nackt dastehende Kuppe den Namen „pan O-plosnan“ („beim Abgeblasenen“). Ein Blick über die heimische Bergwelt hinaus: Der Name des Ventoux in der Provence leitet sich wohl nicht von „Mons ventosus“ („windiger Berg“) ab, sondern bedeutet gemäß heutigem Kenntnisstand in etwa „der von Weitem Sichtbare“. Die Besteigung dieses Berges bewog 1336 den italienischen Humanisten Francesco Petrarca zur ersten literarischen Beschreibung einer Bergtour.
Blasen
Der Wind schnurrt in der heutigen Mundart nicht mehr, nein, er pfeift oder bläst („plost“). Windumtoste Anhöhen werden daher normalerweise Blasbichl oder Blasegg/e genannt. Der Hof Blasbichl (1469 Andre Plaspühler) z. B. befindet sich am windausgesetzten Eck oberhalb von Lana. Hoch über Latzfons dehnt sich unweit vom Kühhof die Wiese Blasbühl und beim Hof Pramstrahl in der Gemeinde Villnöß liegt der markante bewaldete Blasbühl (1.498 m). Blasbichler ist außerdem ein verbreiteter Familienname in Feldthurns, der sich vom Blasbichler in Tschötsch ableitet. Nichts mit Wind zu tun hat dagegen die Plose. Deren Name leitet sich von „Plosach“ („Ansammlung von bloßem, nacktem Gelände“) ab. Die Almweiden der Plose wurden also nach Möglichkeit strauch- und baumfrei („bloß“) gehalten.
Bremstall – Premstall – Pramstall
Einen häufigen Flurnamentyp würde man auf dem ersten Blick nicht mit Wind oder Luft in Verbindung bringen. Es ist der Bremstall (auch Premstall geschrieben), im Pustertal meist Pramstall. Dabei handelt es sich um kühle und luftige Stellen (nicht „Ställe“), wo die Weidetiere vor den Bremsen (mda. Prëmen) in Sicherheit waren. Die Rinderbremse (Tabanus bovinus) kann Viehherden durch Blutverlust und ständige Beunruhigung so entkräften, dass der Milchertrag zurückgeht und die Tiere abmagern. In der Flurnamendatenbank des Naturmuseums Südtirol finden sich an die 120 Flurnamen vom Typ „Bremstall“ (besonders häufig im Sarntal), „Premstall“ bzw. „Pramstall“. Darunter befinden sich drei Erhebungen bzw. Gipfel: am Schattenhang von St. Peter im Ahrntal liegt der Bremstallkopf (Teil der Waldflur Bremstall); oberhalb der einsam gelegenen Alm Winterstall in Mühlbach (Gemeinde Gais) bilden der Große (2.533 m) und Kleine Pramstaller (2.460 m) den Kammabschluss und die Grenze zu Uttenheim; im Hochpustertal liegt der Pramstall (2.465 m), auf dessen Gipfel die Grenzen der Katastralgemeinden Wahlen, Toblach und Winnebach zusammenlaufen. Für „Bremstall“ gibt es auch eine alpenromanische Entsprechung; diese begegnet uns im Matscher Flurnamen Farezza. Der Name dieses Wiesenverbundes leitet sich von alpenromanisch *auriditsja „Luftzug“ (zu lat. aura „Lufthauch“; vgl. dazu it. ora „Abendbrise“) ab, was im Rumantsch (das im Obervinschgau vereinzelt bis ins 17. Jh. gesprochen wurde) „Arezza“ und mit Anfügung der deutschen Präposition „auf“ (’f) „Farezza“ ergab.