Gehen und Laufen im unwegsamen Gelände ist wichtig für die Entwicklung von Koordination und Gleichgewicht © AVS-Jugend Feldthurns
Auf den Bergen, aber auch auf einfachen Wanderwegen beobachten wir immer öfter auch Kinder und Jugendliche mit Wanderstöcken. Gut oder schlecht? Denn beim Springen über Wurzeln, kleine Bachläufe oder Steine – Aktivitäten, die für Kinder ja erst so richtig spannend sind – sind Wanderstöcke doch eigentlich mehr hinderlich denn nützlich. Über dieses Thema sprachen wir mit Dr. Stefan Resnyak, Primar der Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin des Südtiroler Sanitätsbetriebs.
Interview: Ralf Pechlaner, Mitarbeiter im AVS-Referat Jugend & Familie (Bergeerleben 2/24)
Kinder und Wanderstöcke – ein Bild, das wir immer häufiger beobachten, das aber nicht ganz stimmig wirkt. Woher kommt dieses Phänomen?
Stefan Resnyak: Kinder ahmen Erwachsene nach und wollen so sein wie die „Großen“. Nachdem Wander- oder Hikingstöcke bei Erwachsenen zu einem richtigen Trend geworden sind – warum auch immer? – sehen das die Kleinen und wollen eben auch mit Stöcken unterwegs sein. Zudem suggeriert die Werbung leider mehr Sicherheit und sogar Vorteile für die motorische Entwicklung des Kindes, wenn diese Stöcke benutzen – das Gegenteil ist aber der Fall.
Hat vielleicht der Nordic-Walking-Hype vor einigen Jahren dazu beigetragen, dass in den Köpfen der Menschen Wanderstöcke zu sportlichem Gehen ganz einfach dazugehören? Selbst am Berg und bei Kindern?
Ganz gewiss, es ist eine Modeerscheinung geworden; dabei bringt der Gebrauch von Stöcken, bis auf ganz wenige Ausnahmen, beispielsweise bei Gelenksbeschwerden oder etwa beim Tragen schwerer Lasten beim Bergabgehen, keine Vorteile und sollte deshalb vermieden werden.
Im Glauben, ihren Kindern etwas Gutes zu tun, statten Eltern diese mit Wanderstöcken aus. Welche Auswirkungen hat das Tragen von Wanderstöcken bei Kindern im Detail?
Für eine gute Entwicklung von Koordination und Gleichgewicht ist das Gehen und Laufen, auch oder gerade im unwegsamen Gelände, von immenser Wichtigkeit. Unsere Gelenke sind mit unzähligen Sensoren ausgestattet, die Unebenheiten im Gelände ständig unserem Gehirn rückmelden und entsprechende Positionskorrekturen veranlassen. Mit Stöcken wird ein Großteil dieser Informationen ausgeschaltet, es fehlt an Reizen und unsere Koordination und das Gleichgewicht werden nicht trainiert. Die motorischen Grundfähigkeiten Koordination und Gleichgewicht werden im Kindesalter angelegt, fehlt diese Grundlage, können diese im Erwachsenenalter nicht oder nur mehr teilweise aufgeholt werden – ganz nach dem bekannten Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Zum „Erlernen“ von Gleichgewicht und Koordination gehört es auch dazu, dass Kinder stolpern und hinfallen dürfen und sollen – auch das gehört zum Lernprozess dazu. Natürlich müssen wir Erwachsenen dafür Sorge tragen, dass dies nicht im unwegsamen Gelände mit Absturzgefahr geschieht.
Gibt es auch Situationen oder Fälle, in denen das Wandern mit Stöcken bei Kindern hilfreich und ratsam sein kann?
Eigentlich nicht. Solche Situationen, wo Stöcke bei Erwachsenen angebracht sind – wie eben beim Tragen schwerer Lasten, zur Entlastung bei Gelenksbeschwerden, nach Verletzungen oder bei langem Abwärtsgehen in steilem Gelände – sollten bei Kindern von vorneherein ausgeschlossen werden.
Abgesehen von den negativen Auswirkungen auf die motorische Entwicklung von Kindern, birgt das Wandern mit Stöcken besonders auf schwierigen Steigen auch Gefahren?
Das Gehen mit Stöcken will erlernt sein und erfordert ein Minimum an Technik, um sie richtig einsetzen zu können. Ansonsten kann es ganz leicht passieren, dass wir über die eigenen Stöcke stolpern und im schlimmsten Fall abstürzen, weil sie uns im Wege sind, wir aus dem Gleichgewicht geraten und dann genau das Gegenteil eintritt, wofür wir die Stöcke vermeintlich hätten verwenden sollen.
”„Für das Erwerben von Gleichgewicht und Koordination gehört es dazu, dass Kinder stolpern und hinfallen dürfen und sollen.“
Stefan ResnyakPrimar für Sport- und Bewegungsmedizin