St. Martin im Kofel © Ruth Heidi 2022

Streckenwanderung mit der Bahn von Schlanders nach St. Martin im Kofel

Von Ruth Heidingsfelder, Sektion Etschtal

Freitagabend, Tourenplanung. Die Woche liegt hinter uns, die Energie für die Organisation einer individuellen Wanderung ist eher niedrig. „Irgendwas im Vinschgau wär schön…“. Halbherzige Suche auf dem Handy, irgendwie finden wir nichts trotz drei Wanderapps und vier Tourenportalen… dann die Erkenntnis: da gab´s doch mal diese Heftchen vom AVS!

Richtig, im Kasterl mit den Wanderkarten findet sich die kleine Broschüre „Wandern ohne Auto“. Vor lauter Wander-, Touren- und Orientierungsapps haben wir sie ganz vergessen. Wir blättern mit steigender Begeisterung in dem kleinen Geheft. Wie schön, mal wieder Papier zwischen den Fingern zu halten. Und wie praktisch, eine reduzierte Auswahl von 20 Touren zu bekommen. Apps sind fantastisch, aber die Broschüre bietet uns eine überschaubare Anzahl an Wanderungen und zeigt sie in einem irgendwie antiquiert wirkenden Breitformat. Und dann dieses schnelle Hin- und Herblättern ohne lästiges Scrollen….

Ich bin ein Fan langer Überschreitungen, der Tourenpartner aber hat eine stressige Woche hinter sich und bittet um eine gemütliche Runde. Beide haben wir kein Auto. Es ist also klar, dass es eine mittellange Wanderung wird, die mit Bus & Bahn erreichbar ist. Von Schlanders über den Sonnenberg nach St. Martin im Kofel, 1000 Höhenmeter, 4,5h Wegzeit, mit Öffis erreichbar… Nehmen wir!

Von Schlanders nach St. Martin im Kofel © Ruth Heidi

Bei nur 5 Stunden Tourenlänge muss man nicht schon um 6.35 in die Bahn springen, entscheiden wir. Der Tag beginnt daher gechillt und wir lassen uns vom Zug bis nach Meran schaukeln. Dank Schienenersatzverkehr haben wir 25 Minuten Aufenthalt in Meran, was wir dankbar zum Auffüllen der Koffeindepots nutzen. Der Bus startet pünktlich vom Bahnhof aus – und steht nach zwei Kilometern gleich mal im Stau. Wir schauen überrascht, das Engstück vor Töll haben wir als Nicht-Autobesitzer gar nicht auf dem Schirm. Da ist die ansonsten ja doch eher gemütlich fahrende Vinschgaubahn deutlich schneller! Den Rest der Fahrt unterhalten wir uns, daddeln auf dem Handy herum und schauen irgendwann mangels Internetverbindung einfach nur aus dem Fenster. Wie schön, auch mal gar nichts zu tun!

Angekommen in Schlanders laufen wir zum sonntagsstillen Ortskern und entlang der Sonnenpromenade zum Schlandraunbach (Weg Nr. 1). Die kleine Schlucht empfängt uns mit kühler Feuchte, über uns ragt die Burg Schlandersberg auf. Wir überqueren den Bach und nehmen kurz danach den Weg Nr. 14, der den Hang schräg querend hinauf nach Patsch führt. In angenehmer Steigung führt der alte Saumweg durch den Sonnenhang, der nach diesem extrem trockenen Sommer seinem Namen noch mehr als sonst alle Ehre macht. Wären da nicht die nordisch wirkenden Schwarzkiefern, würden wir uns wie im mediterranen Raum fühlen. Überhaupt mediterran – die Sonne knallt ordentlich und wir verfluchen unsere langen Wanderhosen. Wie immer haben wir das Vinschgau unterschätzt.

Nach etwa eineinviertel Stunden erreichen wir Patsch (1.431m). Die Höfe hier wurden schon in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgegeben. Vor ein paar Jahren hat man die Ruinen befestigt und einen lauschigen Rastplatz daraus gemacht. Von wegen lauschig, gerade wird er von einer fröhlich lärmenden Wandergruppe in Besitz genommen. Macht nichts, es ist eh noch zu früh für eine Jause. Ein paar Meter weiter zweigt der Weg als schmaler Steig von der Forststraße nach rechts unten ab. Uns kommen einige Mountainbiker entgegen, die aber in sicherer Entfernung stehen bleiben und uns vorbei lassen. Einer bedankt sich sogar für das gute Nebeneinander existieren. Das finden wir ja mal echt nett! Den Spruch merken wir uns gleich für die nächste Biker-Begegnung. Durch Lärchenwald geht es zur Hängebrücke über den Fallerbach. Die Brücke entschärft seit einigen Jahren das steile und stark von Abrutschen gefährdete Stück, das nach Abgängen immer wieder für Wanderer gesperrt wurde.

Am Schreckbichl, einem alten Siedlungsplatz, machen wir mittag. Der Blick geht nach Süden zu den glänzenden Gletschern der Zufalls-/Cevedale-Gruppe und über uns in die steilen Hänge, wo die Gelbfärbung der Lärchen schon im vollen Gange ist. Wir bewundern den Farbgradienten zwischen golden an der Waldgrenze bis saftiggrün auf unserer Höhe und genießen die warme Herbstsonne.

Von Schlanders nach St. Martin im Kofel © Ruth Heidi

Etwas steif in den Beinen geht es weiter, zum Glück führt der Weg in nur leichter Steigung am Hang entlang bis zur Ruine Laggàr. Hier weicht der Wald erstmals wieder zurück und macht Wiesen Platz. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf St. Martin im Kofel. Wenig später treffen wir auf die ersten bewohnten Höfe und werden von einer munteren Herde Ziegen begrüßt. Eine weitere halbe Stunde später sind wir am Ziel unserer Tour angekommen. Wir gratulieren uns zur gelungenen Wanderung und belohnen uns mit Mohnkuchen und ausgiebiger Zeitungslektüre in der Sonne.

Irgendwann ist es aber Zeit für die Rückkehr und so schweben wir mit leisem Bedauern mit der Seilbahn ins Tal. Natürlich hätten wir auch zu Fuß absteigen können, aber wir wollen noch eine Freundin in Schlanders besuchen. So gewinnt bei der Wahl zwischen „längere Einkehr“ und „sportlicherer Tourenabschluss“  eindeutig die kulinarische Option. Beim Runterfahren bemerken wir die vielen Prozessionsspinnernester in den Bäumen. Die teilweise ziemlich braun und gar nicht mehr gut aussehen.

So entspannt die Hinfahrt verlief, so relaxt ist die Rückfahrt. Die Prozessionsspinner im Kopf nutzen wir die Zeit im Zug für eine Lernheit in Sachen Bergökosysteme. Mein Tourenpartner ist nämlich ein wenig besessen von naturbelassenen Bergwäldern und beharrt darauf, dass am Sonnenhang eigentlich ein Laubmischwald wachsen müsse. Ich bin skeptisch und halte mit gefährlichem Halbwissen entgegen („Eichen ist es hier viel zu trocken!“). Recht hat der Mann, der Kiefernwald ist nämlich ein künstliches Produkt. Der Sonnenhang wird seit Jahrhunderten von Menschen genutzt, teilweise wurde er aber übernutzt. Es kam zu starker Erosion, sodass Teile des Hangs vegetationslos blieben, was zu schweren Muren und Verwüstungen führte. Im 19. Jahrhundert begann man daher mit den ersten Aufforstungsversuchen. Sie blieben aber erfolglos, denn das zarte Grün der angepflanzten Bäumchen wurde zu stark vom Wild goutiert, lediglich die Schwarzkiefer (Pinus nigra) wurde aufgrund ihrer harten Nadeln verschmäht. Die Schwarzkiefer (oder -föhre) ist eigentlich nicht in Südtirol heimisch, kommt aber auch mit extrem trockenen und heißen Bedingungen zurecht und schaffte es daher, sich auf den Vinschger Sonnenhängen auszubreiten. Was zuerst als erfolgreiche Aufforstung gefeiert wurde, verdrehte sich einige Jahrzehnte später ins Gegenteil: mit dem Auftauchen des Prozessionsspinners geriet die Monokultur Schwarzföhrenbestand in Gefahr. Da Menschen und Tiere allergisch auf die feinen Härchen der Raupen reagieren, muss inzwischen teils auch chemisch gegen den Schädling vorgegangen werden. Deshalb wurden in den letzten Jahren Aufforstungszellen angelegt, in denen Eichen, Mannaesche und andere trockenresistente Gehölze angebaut werden. Da diese Areale steil bis sehr steil sind und durch Maschendrahtzäune vor Wildverbiss geschützt werden müssen, ist der Aufwand hierfür enorm. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Nutzen von Alm- und Bannwaldgesetzen auf einmal ganz neu verstehen: diese Texte, die zu den ältesten niedergeschriebenen Gesetzen in Europa überhaupt gehören, regeln die Nutzung von Bergwiesen und -wäldern, um eine Übernutzung zu verhindern. Die Vorfahren hatten also mal wieder recht.

Ausgeruht erreichen wir Bozen und sind dankbar für einen Tag voller Bewegung und Sonne und ein kleines Heftchen, das trotz Digitalisierung noch nicht ganz überflüssig geworden ist.

Die Tourentipps aus den AVS-Heften „Wandern ohne Auto“ sind alle auf alpenvereinaktiv.com zu finden. Für eine erleichterte Tourenfindung dabei den Filter auf „mit Bahn und Bus erreichbar“ oder „von A nach B“ setzen.

Von Schlanders nach St. Martin im Kofel © Ruth Heidi