Bunte und anfangs noch unbekannte Flugobjekte vom Modell „Edelweiß“ am Himmel über dem Ultental © Markus Breitenberger

Südtiroler Flugpioniere zwischen Versuch und Irrtum

 

In den späten 1980er-Jahren, zu einer Zeit, in der von „hike and fly“ – mittlerweile ein Trendsport – noch keine Rede war, haben mehrere junge Ultner genau diese Luftsportdisziplin bereits intensiv in ihrem Heimattal betrieben. Heute, mehr als 35 Jahre und unzählige Flugstunden später, bezeichnen sich die gestandenen Gleitschirm-Enthusiasten als „Gelegenheitsflieger“: einige fliegen selten, andere bei jeder Gelegenheit. Zwei von ihnen, die Brüder Daniel und Markus Breitenberger, haben wir in Kuppelwies, mit direktem Blick auf den dortigen Flug- und Landeraum, zu einem Gespräch getroffen.

Ich sitze mit Daniel und Markus auf dessen Terrasse, und während Markus in einem Kuvert nach seinem ersten Flugschein sucht, schaue ich den jungen Ultner Acropiloten bei der heute wohl rasantesten Form des Gleitschirmfliegens zu. Ein ums andere Mal zaubern sie regelrechte Luftstunts in den Himmel über dem Zoggler Stausee. Wie bereits vor 35 Jahren sind es heute wieder junge Ultner, die sich – diesmal wohl auch wegen der vorteilhaften Kombination aus einer schnellen Aufstiegsanlage, einer ausgedehnten Wasserfläche und einer ebenso ausgedehnten Landewiese dahinter – in einer südtirolweit einmaligen Intensität an eine spektakuläre Luftsportart heranwagen. Ende der 80er hat sich die Generation rund um die Breitenberger-Brüder Daniel, Markus und Reinhard und deren Cousins Gabriel, Helmuth und Martin – im Kollektiv ihrer Herkunft nach die „Baschteler“ genannt – erstmals mit Gleitschirmen in die Ultner Lüfte gewagt; zwar weniger akrobatisch als die Jungen von heute, aber sicher genauso abenteuerlich und spektakulär, gab es doch keine Vorbilder, an denen man sich hätte orientieren können. Und auch bei der Ausrüstung, die sich auf Gurtzeug und Schirm beschränkte, gab es noch keine großen Entfaltungsmöglichkeiten.
Mich interessiert, wie die Burschen damals überhaupt auf die Idee gekommen sind „in die Luft zu gehen“ – denn Gleitschirm-Piloten gab es damals noch keine im Tal (allenfalls einzelne Drachenflieger), und irgendwoher muss man doch „Wind“ von der Sache bekommen haben…

Von der bloßen Idee…

Noch bevor ich die Frage stellen kann, hat Markus den Flugschein gefunden – seinen eigenen und auch jenen von Daniel. An der Haarpracht, die beide auf den Porträtfotos tragen, lässt sich erkennen, dass nun doch schon einige Jahre seit dem Erwerb des Scheins vergangen sind.

Markus und Daniels erste Schulungsbestätigung, ausgestellt von einer Osttiroler „Hängegleiterschule“. Man beachte: die Inhaber waren berechtigt, „Flüge bis zu einer Höhe von 150 Meter über Grund“ durchzuführen – mehr ging damals wohl ohnehin nicht © Stephan Illmer

Während ich mit Markus die alten Fluglizenzen studiere, berichtet mir Daniel, wie alles angefangen hat: „Eines Tages ist Markus zu mir gekommen und hat gesagt: Danl, ich will jetzt fliegen gehen! Und er hat mich gefragt, ob ich mitmachen würde. Mir war bewusst, nicht völlig schwindelfrei zu sein; ich wollte der Fliegerei aber nicht abschwören, ohne sie überhaupt probiert zu haben. Also sagte ich: lass es uns versuchen! Und so sind wir ein halbes Jahr später nach Sand in Taufers gefahren und haben dort einen Kurs gemacht.“
Markus Erinnerungen gehen noch etwas weiter zurück: „Ich hatte ja bereits als ich rund 10 Jahre alt war, also Mitte der 70er, zum ersten Mal am ‚Glander‘ stehend zwei von den ‚Brunnern‘ mit einem ‚Drachen‘ herunterfliegen gesehen und wusste gleich: ich will auch fliegen gehen. Mitte der 80er, beim Militärdienst, habe ich dann gesehen, dass es neben den Drachen auch Schirme (Fallschirme, um genau zu sein) gibt. Ich wollte deshalb zur ‚Tuscania‘, sprich: zum Fallschirmjäger-Regiment der Carabinieri gehen und habe den entsprechenden Kurs gemacht. Da ging es mir allerdings zu kriegerisch zu, weshalb ich mir gesagt habe: sobald die ‚Naia‘ fertig ist, mache ich mit Daniel einen Gleitschirmkurs. Daniel hat zu der Zeit in Bruneck gearbeitet, ich selbst war in Brixen; und der Achmüller Karl in Kematen in Taufers ist der erste gewesen, der eine Art Flugschule mit insgesamt drei Schulungsschirmen hatte. Die Schule haben wir also, zusammen mit zwei weiteren Ultnern, im Tauferer Tal gemacht, den offiziellen Flugschein bekamen wir hingegen im Hochpustertal, und zwar auf der Osttiroler Seite, da es in Südtirol hierfür noch gar keine Möglichkeit gab.“

Ganz schwindelfrei war ich nicht... also musste ich es probieren!

Daniel Breitenberger

…zu den ersten Schritten…

Auf den im Schnelldurchlauf absolvierten Kurs im September 1987 blicken Daniel und Markus heute noch mit Verwunderung zurück: „Einen halben Tag lang – es war Schlechtwetter – sind wir beim Achmüller in der Stube gesessen und haben bei ein paar Gläschen ein kleines bisschen Theorie angerissen.“ Am nächsten Tag habe der Achmüller gemeint: „Ach ihr seid ‚woltige Mander‘, gehen wir nur frisch fliegen!“ Also gings für die vier Ultner zuerst auf die Speikboden-Pisten, um das „Aufziehen“ zu probieren, und dann gleich weiter zum Startplatz bei den Pursteinhöfen hoch ober Taufers. „Obwohl wir noch keine Ahnung vom Starten, Fliegen und Landen hatten, hat uns der Achmüller auf der Wiese in die Fluggeräte eingehängt und gemeint: ‚Iaz Burschn megs lai renn wos es herhobs!‘. Die Hangneigung auf Purstein beträgt 40° – soweit man halt hinuntersieht, denn bald darauf fällt das Gelände noch steiler ab in die Pursteinwand. Zwangsläufig waren wir gleich einmal draußen in der Luft. Flug und Landung waren dann nicht mehr allzu heikel: der Talboden ist groß und eben und man muss hierfür folglich nicht viel tun oder können,“ resümiert Daniel, der als erster von den Vieren zum kurzen Gleitflug abgehoben war. „Einzig Markus, der als Dritter gestartet war, hatte seine Schwierigkeiten: er hatte zu wenig Gewicht für den relativ großen Schulungsschirm und folglich dauerte sein erster Höhenflug gleich länger als geplant….“. „Ja ich bin tausend Tode gestorben“, besinnt sich Markus: „Die Ansage war ja: ihr braucht gar nichts tun, einfach kerzengerade gegen den Wind hinunterfliegen Richtung Kematen. Ich bin aber die längste Weile nicht hinuntergekommen und wusste nicht, was tun… ich war ja völlig auf mich allein gestellt – Funkkontakt zum Fluglehrer, wie es heute üblich ist, hatten wir ja keinen, und natürlich auch keine Sicherheitsausrüstung wie Helm oder gar Rettungsschirm.“ Als Schirm und Pilot endlich „niedergegangen“ waren, habe der zuvor gelandete Bruder bloß begeistert gratuliert: „Pärig, so wäre es richtig!“

…in den heimischen Bergen

Während heutige Flugschüler:innen in Italien bis zu 35 Höhenflüge benötigen, um zur praktischen Prüfung antreten zu können, waren die Ultner nach zweieinhalb Tagen und gut fünf Höhenflügen von den Pursteinwänden gewissermaßen brevetierte Piloten und somit berechtigt – dank einer Bestätigung der Para-Flugschule Sillian-Hochpustertal – eigenständig fliegen zu gehen. Nur: sie hatten kein Material.
Für Markus war dies freilich kein Grund, sich nicht mit der Fliegerei zu beschäftigen: „Nach dem Erhalt des ‚congedo militare‘, der zeitlich mit unserem Gleitschirm-Kurs zusammengefallen war, hätte ich eigentlich wieder nach Bologna gehen sollen, um mein Studium fortzuführen. In dem Moment hatte ich hierfür allerdings keine Motivation mehr; hingegen war ich Feuer und Flamme für die heimischen Berge und die Luft um sie herum. Ich bin dann über Monate jeden Tag – es muss ein wettertechnisch ziemlich stabiler Herbst gewesen sein – auf einen Gipfel hinaufgegangen: ohne Fluggerät zwar, aber mit Klopapier als Windmessinstrument, denn ich wollte jedes Gipfelchen in Ulten auf dessen Abflugtauglichkeit auskundschaften. Gleichzeitig habe ich mir allgemeine Meteorologie-Bücher angeschafft. Auf mein erstes spezifisches Gleitschirm-Lehrbuch, das aus Deutschland kommen sollte, musste ich hingegen ein dreiviertel Jahr warten.“

Bereits Goethe hatte eine Ahnung von der Sehnsucht der modernen Flieger (festgehalten von Markus Breitenberger) © Markus Breitenberger

Nach diesem „Trockentraining“ wurde dann, spätestens im darauffolgenden Frühjahr, endgültig der gemeinschaftliche Entschluss gefasst, einige Schirme anzuschaffen, und so kamen die ersten vier „Edelweiß“-Modelle ins Ultental. Und mit diesen kamen weitere Flugbegeisterte zur Gruppe, welche sich bald als Verein konstituierte und neben den „Baschtelern“ Daniel, Gabriel, Helmuth, Markus, Martin und Reinhard Breitenberger auch Alfred Tschaupp, Johann Thöni, Konrad Gruber und Markus Kaserer umfasste.
Im Oktober 1988, als es dann auch in Italien möglich war, einen Flugschein für Paragleiter zu erwerben, legten die Ultner (wiederum im Tauferer Tal) an einem halben Tag die entsprechende Prüfung in Theorie und Praxis ab. Geübt war man inzwischen ja.

Für kurze Übungsflüge waren und sind die Ultner Südhänge bestens geeignet © Markus Breitenberger

Ambitionen und Reaktionen

Die ersten richtigen Gipfel-Flüge absolvierte die Gruppe ausnahmslos im Ultental. Der Zustieg erfolgte – selbstverständlich – zu Fuß und dies mitunter mehrmals am Tag: „Wenn es gut gegangen ist, sind wir dreimal hinaufgegangen: morgens, mittags und abends. Dann hatte man am Ende halt seine 3000 bis 4000 Höhenmeter in den Beinen“, berichtet Markus. Die Devise habe immer gelautet: „Der Schirm trägt dich knieschonend herunter, dafür trägst du ihn wieder hinauf!“ Die Tagesziele wurden zumeist spontan je nach Wetterprognose am frühen Morgen definiert, zur Kommunikation innerhalb der Gruppe wurden Funkgeräte angeschafft. „Wir waren inkognito im Funknetz unterwegs, weshalb wir unsere Rufnamen der Vogelwelt entnommen haben: Alfred war der Adler, Daniel die Dohle, es gab einen Geier, einen Habicht, sowie Merlin, Möwe, Rabe usw.“.
Oft war man in der Gruppe unterwegs, oft aber auch allein, im Sommer nach der Arbeit etwa: „Da bin ich um 5 Uhr von Bozen nach Hause gefahren, um 6 Uhr war ich hier. Um 8 Uhr war ich dann bereits auf irgendeinem Gipfel, konnte dort noch anderthalb Stunden in der Sonne sitzen, und wie die Schatten immer weiter vom Tal heraufkamen und die letzte Sonne fast bei den Zehenspitzen angekommen war, startete ich – dem Abwind zuvorkommend – wieder mit dem Schirm hinaus ins Tal“, erinnert sich Markus an so manches wohlgestaltete Feierabendprogramm.
Ich frage mich und meine Gesprächspartner, was eigentlich der Rest der Ultner von den neuen Luftsportlern gehalten hat. „Die Leute haben uns schon manchmal als narrisch bezeichnet, als Selbstmörder sogar. Bei den Flatschhöfen, wo wir oft gestartet sind, wurde ein Bub einmal von seinen Leuten gefragt: ‚Jo Biabl, mechesch du a amol a Fliager wern?‘ Die Antwort war: ‚Nua, i will länger leben als de!‘“, scherzt Markus. „Und der Milchmesser dort oben ist, wie er das erste Mal einen von uns starten sah, dermaßen erschrocken, dass er schreiend ins Heu geflüchtet ist“, ergänzt Daniel.

In diesem Album hat die Gleitschirmgruppe Ulten ihre Ausflüge festgehalten © Markus Breitenberger
Das Hochjoch in Ulten war immer schon ein geeigneter Ort, um vom „hike“ ins „fly“ zu wechseln © Markus Breitenberger

Er trägt dich hinunter, du trägst ihn dafür hinauf! Das war der Handel.

Markus Breitenberger

Hike and fly: in Ulten immer schon fast and light

Nachdem sich die Ausrüstung auf den Gleitschirm selbst und einen einfachen Komplettgurt mit Sitzbrett beschränkte, war man mit 7-8 Kilogramm Zusatzmaterial auch früher schon leicht beladen. Von Fluginstrumenten wusste man anfangs nichts, die Tourenplanung erfolgte bereits von zuhause aus: „Wir haben oft auf der Landkarte ausgemessen, ob wir angesichts der bescheidenen aerodynamischen Eigenschaften unserer Schirme von diesem oder jenem Gipfel einen Landeplatz erreichen würden oder nicht“, berichtet Markus. „Konrad hatte zudem bald einmal einen Winkelmesser dabei, anhand dessen wir auch vor Ort ausrechnen konnten, ob wir überhaupt über die Hindernisse in der Nähe unserer Startplätze hinauskommen würden. Wir wussten ja: 3:1 war die Sinkrate (auf drei Metern Flug ging der Schirm – in ruhiger Luft – um einen Meter hinunter), und so konnten wir einigermaßen vorhersagen, ob wir über den unter bzw. vor uns liegenden Wald bspw. in den Talboden hinauskommen würden.“
Im Unterschied zu heute waren die damaligen Schirme noch nicht für alle möglichen Gewichtsbereiche erhältlich. Und so musste bspw. Gabriel, der mit 16 Jahren einst der jüngste und auch magerste in der Gleitschirmgruppe war, immer mit Zuladung starten, um eine anständige Belastung des Schirms zu erreichen: „Wir mussten dem Bübl etliche Kilogramm Steine aufpacken, damit die Kappe überhaupt stabil fliegt“.

Die ersten Schirmkappen wollten beherzt aufgezogen werden. Manchmal war ein Sprint vonnöten, um Luft unter die Sohlen zu bekommen © Markus Breitenberger
Rasant waren die Landeanflüge mit den ersten Gleitschirmmodellen © Markus Breitenberger

Auf das frühere Sortiment der Schirme angesprochen packt Markus nun seinen damals zweiten Schirm, einen Genair mit 23,5 m2 Fläche, aus, den er eigens für unser Gespräch aus dem Keller geholt hat. „Anfangs hieß der Schirm schlicht ‚Genair‘. Dann hat der Hersteller das Segel durch Ausschnitte modifiziert und in ‚Genair dynamique‘ umgetauft – siehe das nachträglich angebrachte Etikett. Nun war der Schirm ein Höllengerät. Diesen solltest du mal den jungen Piloten auf der Landewiese drüben zeigen!“ Sein erster Schirm, so Markus, sei noch ein „Käfer“ gewesen, dieser hingegen ein „Testarossa“. „Mit unseren ersten Schirmen“, ergänzt Daniel, „war an Thermikfliegen nicht zu denken; Höhe haben wir allenfalls gemacht, wenn uns der Wind vertragen hat.“

Markus und Daniel demonstrieren uns einen ihrer ersten Schirme, den Genair (dynamique) aus dem Hause Air Gautier (Herstellungsdatum 1988). Hohe Grundgeschwindigkeiten und niedrige Gleitzahlen: dies waren – wie bei den heutigen „Mini-“ oder „Speedwings“ – die Merkmale der frühen, ziemlich reduzierten Fluggeräte © Markus Breitenberger
Abflug vom Nagelstein in Richtung St. Gertraud. Mit dem Genair 510 gings (ob seiner aerodynamischen Eigenschaften) quasi geradewegs ins Tal © Markus Breitenberger
Anflug mit dem Genair auf die Landewiese in Kuppelwies. Ohne Helm, dafür mit Schweißband © Markus Breitenberger

Aus Fehlern lernt man (…spätestens, wenn man sie selbst macht)

An Schutzhelme dachten die Flieger lange Zeit nicht. Eines Tages – man ging zum x-ten Mal auf den Peilstein zum Fliegen – hatte Markus zum allerersten Mal einen Kletterhelm dabei. „Das war wohl eine Vorsehung“, meint Markus, denn: „Der Helm hatte danach eine 4 cm lange und 0,5 cm tiefe Schramme am Hinterteil. Nach gerade mal 10 Metern Flug bei ungünstigen Verhältnissen hat es mich rücklings hinunter und mit dem Kopf auf einen Stein geschmettert. Passiert ist mir nichts; aber ohne den Helm wäre ich an dem Tag wohl tot gewesen.“ Der unmittelbare Lerneffekt sei allerdings ausgeblieben: „Wir haben nichts daraus gelernt, nichts! Mein Fazit war nur: Hier geht es heute nicht. Der Hans wollte es freilich wissen und ging probieren. Er kam dann zwar ins Fliegen, allerdings nicht wie geplant in Richtung Tal. Stattdessen hat es ihn Richtung Rontscherberg geblasen, wo er dann in den Geröllhalden notlanden musste. Nach einer Dreiviertelstunde kam er wieder zu Fuß daher. Nun lautete das gemeinsame Fazit: Nein, heute geht es nicht – oder vielmehr: hier geht es heute nicht. Also sind wir weitergegangen aufs Hochjoch und dort, nach den zuvor heil überstandenen ‚Crashes‘, erneut gestartet. Kaum in der Luft: Schauer! Auf der Kappe sammelte sich literweise Regenwasser wie in einem Planschbecken. Mein ‚Edelweiß‘ hatte gerade ein größeres Loch und so konnte das Wasser abfließen. Die anschließende Landung im Tal war dann mehr Glück als Verstand, denn die Tiroler Fahnen – es war ein Feiertag – standen gerade empor vor lauter Wind. Wir sind als jugendliche Draufgänger also oft gegen alle Regeln der Kunst geflogen. Angst war kein Thema. Nach solchen Flug-Erlebnissen wird man dann aber schon bald vorsichtiger.“

Mit der Zeit wurden wir schon etwas vorsichtiger...

Markus Breitenberger

Glück und (mit den Jahren auch) Können

Außerhalb des Heimattales waren die Ultner nur sporadisch anzutreffen, am ehesten lockten sie aber die Flüge von den hohen Gletscherbergen in der Ortler- oder Berninagruppe. Auf die Frage, ob man sich im unbekannten Terrain immer noch wohl gefühlt habe, antwortet mir Markus: „Ein paarmal hatte ich nur Glück, dass ich nicht weggekommen bin vor lauter Wind – wie etwa am König, als ich eine Stunde lang probiert hatte zu starten mit der Hilfe von vier Kollegen, die den Schirm festhalten mussten, und es mich jedes Mal, wenn sie den Schirm losgelassen haben, gleich versetzt hat. Gottseidank bin ich es nicht derstartet.“ Drei Mal ist Markus im Laufe der Jahre samt Schirm auf den König gestiegen, nie ließ der Wind einen Start zu. „Blöderweise geglückt ist uns, nach etlichen Versuchen bei Null Aufwind, der Start mit dem Doppelsitzer am Piz Roseg. Aufgrund des ganzen schweren Materials, das wir im Rucksack dabeihatten, hat es Gabriel und mich – kaum abgehoben – mitsamt dem Sitz komplett auf den Kopf gestellt. Dieses Gestell musst du dir vorstellen: Kopfüber unterm Schirm flogen wir quasi blindlings dem immer flacher auslaufenden Gletscher entgegen. Nur um wenige Meter schafften wir es über eine Geländekante oberhalb der Gletscherzunge, die in einen Gletschersee mündete. Wir sahen uns schon im See oder in der danebenliegenden Moräne einschlagen, konnten unser Gefährt am Ende aber – nur mit Glück – drei Meter neben dem Wasser, auf ebener Wiese, landen. Das war mein letzter Doppelsitzerflug!“.
Ob es ihnen angesichts solcher Erlebnisse nie vergangen sei, will ich wissen. „Nein das nicht. Wir hatten immer Glück. Wir sind schon auch, ungewollt und sogar gewollt, in den Wipfeln gelandet. Aber größere Unfälle hat es bei uns nicht gegeben“, bilanziert Markus. Aus brenzligen Situationen sei man allenfalls mit einer nochmals gesteigerten Sensorik herausgegangen. „Auch wenn du heute nicht fliegen gehst: Du hast Wind und Wetter immer genau im Blick“, ergänzt Daniel. „Wir sind vor dem Fliegen ja jeden Meter ausnahmslos und mit allen Sensoren zu Fuß hochgegangen. Und genau deshalb auch x-mal auf halbem Wege oder auch ganz oben umgedreht und zu Fuß wieder hinuntergegangen. Dieses Sensorium für das Wetter entwickelst du nicht, wenn du heutzutage rasch mit der Seilbahn irgendwo hinauffährst und dich nur auf die technischen Hilfsmittel verlässt.“

Stephan Illmer