„Die Auslese (IX-)“ Peitlerkofel, Gadertal
Erstbegehung der Route "Die Auslese" © Simon Gietl

Simon Gietl gelingt die Vollendung einer großartigen Erstbegehung am Peitlerkofel im Alleingang. Die Linie führt genau an der markanten Kante in der Mitte der Nord-west Wand empor. Bereits in den 90er Jahren wurde ein großer Teil von Claus Obrist und Karl Hofer erschlossen. Weitere Seilschaften versuchten sich in der fabelhaften Linie in den darauffolgenden Jahren. Auch Claus wollte 2018 die Tour vollenden jedoch verletzungsbedingt kam es nicht dazu, danach blieb sie bis zum Sommer 2022 unversucht. Nun verfasste Simon sein Erlebnis bei der Solo Erstbegehung in einem kurzen Bericht.

Okergelb, geometrisch perfekt gezeichnet und das frühabenldiche Sonnenlicht in hell und dunkel teilend und unwiderstehlich steil emporragend – so präsentiert sich das im wahrsten Sinne des Wortes das grenzgeniale Profil des markanten Nordwestpeilers des Peitlerkofels. Der bereits inflationär gebrauchte Begirff Grenzerfahrung muss im Zusammmenhang mit der Route an dieser Kante ein weiteres Mal in Anspruch genommen werden. Es galt mehrere Grenzen zu ertasten, zu überwinden aber auch zu aktzeptieren…..  

Vollgepackt, kreischend und durchgeschwitzt wie ein beladener Lasten Esel stieg ich das steinige Geröllfeld hoch. Aufgrund des immensen Gewichtes erschien mir das wie eine Sisyphusarbeit im Treibsand.  Die Tatsache, dass ich bei jedem Schritt einen halben Schritt zurück rutschte war mittlerweile akzeptiert und konnte mich schon lange nicht mehr stören. Der gelbe große Sack, den ich auf meinem Rücken hatte, gab sein Bestes mich in die Knie zwingen zu wollen. Aber mein einziges Ziel war es, ihn bis zum Wandfuß zu schleppen. Als ich am hellgrauen und kompakten Felssporn ankam, war es eine Wohltat den bleischweren und stummen Begleiter von meinem Rücken abzuwerfen. Nachdem ich mich etwas erholt hatte, warf ich den Blick auf das wesentliche Ziel. Denn wegen dem war ich hier. Die markante und imposante Nordkante des Peitlerkofels.

Als Startpunkt des Projektes kann man die Solo Winterbegehung der klassischen Nordwandführe Hruschka bezeichnen. Insbesondere der anschließende Gleitschirmflug vom Gipfel ermöglichte mir beeindruckende Ein- und Tiefblicke in die steile Nordwand, die von dieser radikalen und augenfälligen Kante dominiert wird. Und ebendiese geradezu drastisch aufdringliche Linie hatte mich so fasziniert, dass mich die Vorstellung dort hoch zu klettern , mich nicht mehr losließ. Die Idee an der buchstäblichen Aorta des Peitlerkofels eine Erstbegehung zu probieren, war geboren. Nach längerem Nachforschen und genauerer Recherche konnte ich in Erfahrung bringen, dass die Linie bereits von Diego Cernesco und Hubert Niederwolfsgruber ernsthaft versucht wurde. Diego konnte mir zudem sagen, dass sie nicht die Ersten waren, die die Absicht hatten die auffällige Kante erstzubegehen. Bereits in den 90er wurde die Linie bis zum Anfang der steilen Kante on Claus Obrist und Franz Hofer probiert. Hubert und Diego konnten diesen Versuch zwar um eine weitere Seillänge erweitern, entschlossen sich nachher aber zum Rückzug. Seinen Beschreibungen nach, sollte die Kante immens steil sein und teilweise fragwürdigen Fels aufweisen. Daraufhin fragte ich Diego, ob sie es nochmals versuchen möchten oder ob er es als offenes Projekt freigegeben hatte. Er war anfänglich voller Elan und hatte die Absicht mit mir in die Route einzusteigen und die Erstbegehung zu vollenden. Dennoch wurde dieser Plan von Terminen, die Diego als Bergführer wahrnehmen musste, durchkreuzt und zu Nichte gemacht. Auf diese Weise gab er mir das OK, mit einen anderen Seilpartner die Erstbegehung zu versuchen. Etwas enttäuscht und unter Zeitdruck einen motivierten Seilpartner zu finden, war mir zu umständlich. Recht spontan aber voll fokussiert reifte kurzerhand der Entschluss, die Route alleine zu probieren.

Die buchstäblich plakativ wirkende Kante hatte mich derart in ihren Bann gezogen, dass ich mit vollster Konzentration und Ambition das Projekt im Rope Solo Stil in Angriff nehmen wollte. Zusätzlich zum bereits vorbereiteten Material musste ich nun nur noch das technische Material zur Selbstsicherung und ein leichtes Biwak Equipment mitnehmen.

Nach der Schinderei und Schlepperei war es nun soweit. Das notwendige Material mitsamt Biwakausrüstung lag am Fuße der steilen Nordwand. Bevor ich mich schlussendlich entschied einzusteigen, genoss ich nochmals die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Ich saß auf einer Kanzel und ließ meinen Blick mehrmals in die Ferne schweifen. Ortlerguppe, Zillertaler Hauptkamm und die Venedigergruppe und sogar mein Zuhause war zu erspähen. Absofort galt meine vollste Konzentration und Aufmerksamkeit den steilen und felsigen Überhängen, die wie ein überdimensionaler Schiffsbug über mir thronten. Anfänglich waren die Schweirigkeiten recht überschaubar. Das wirklich heikle und Kräfte raubende im ersten Teilstück war das Höherziehen des immens schweren Materialsackes. Das Gelände war gerade so schwer, dass das Klettern mit dem schweren Rucksack zu delikat und zu anstrengend gewesen wäre. Auf diese Weise hatte ich die klassische Wahl zwischen Pest und Cholera. Die ersten Seillängen gestalteten sich verhältnismäßig moderat und boten Genusskletterei im rauhen, grauen und recht kompakten Dolomitgestein. Der Schwierigkeitsgradgrad schwankte dabei zwischen den fünften und sechsten Grad auf der UIAA Skala. Nach etlichen Seillängen erreichte ich ein ausgeprägtes aber ziemlich abschüssiges Felsband. Dieser Platz schien, recht passend für das Biwak zu sein. Bestmöglichst wollte ich mir dort eine Biwakmöglichkeit einrichten. Da es allerdings erst Nachmittags war, entschied ich mich das restliche Tageslicht noch optimal auszunützen. Das notwendige Material für die bevorstehende Biwaknacht wurde aus dem Rucksack verbannt. Der Rucksack war auf einmal um ein Vielfaches handlicher und erfreulicherweise sehr viel leichter. Dadurch war auch das Höherziehen viel angenehmer. Schon beim Höherziehen des Rucksackes merkte ich wie das Gelände mit jedem Meter steiler und überhängender wurde. Unter einem kleinen brüchigen Dach erreichte ich einen guten Standplatz. Die rote freihängende Nabelschnur zum Rucksack zeigte mir augenscheinlich die Steilheit und Exponiertheit des Geländes. Da die bevorstehenden Metern ungemein anspruchsvoll aussahen, musste ich schnellstmöglich diese drückende Ausgesetztheit verdrängen und mich auf das Wesentliche konzentrieren. Somit war ich nun gerade dabei, die letzte Seillänge die Diego und Hubert vor ca. 15 Jahren bereits eröffnet hatten, hoch zu klettern. Der steile und heikle Fels und die verwendetetn Haken, die teilweise kaum noch bis zur Hälfte im gelben Dolomit steckten, machten die Kletterei sehr eigen und haarig. Etliche der bemitleidenswerten Haken konnte ich sogar per Hand herausziehen.  Mit ausgesprochener Vorsicht und Ruhe versuchte ich langsam aber stetig , Meter um Meter an Höhe zu gewinnen. Dieses Vorhaben schien, an einer auffälligen große Haiflossen ähnlichen Schuppe zu scheitern. Diese morsche und sehr brüchige Schuppe schien nur darauf zu warten, dass sie endlich berührt wird und endlich den Weg nach unten antreten konnte. Mit allerfeinstem Fingerspitzengefühl klopfte ich sachte auf diese Angst einflößende Felsskulptur. Ein leichtes und vorsichtiges Belasten schien, die Schuppe auszuhalten. Ich entschied mich also diese möglichst passiv und defensiv zu berühren und an dieser delikaten Schuppe hochzuklettern. Die scharfe Kante der großen Schuppe wäre prädestiniert gewesen, um ein Seil zu kappen. Deswegen hatte ich besonders großen Respekt als ich mich an derselben höher kletterte. Wie eine Guillotine, die von Geisterhand an die Wand gedrückt wurde, hing sie genau über meinem relativ dünnen Einfachseil. Mein Atem stockte obwohl mein Herz bei diesem Anblick immer schneller raste. Ich war um jeden Zentimeter froh den ich an dieser Schuppe höher kam. Schlussendlich konnte ich mich aus dieser prekären Situation befreien, in dem ich etwas oberhalb einer guten Absicherung anbringen konnte – endlich. Nach weiteren zehn Metern hing ich schließlich direkt an der Pfeilerkante. Die Ausgesetztheit erreichte ihren eindrucksvollen Höhepunkt. Ein wahrlich exklusives Feeling an dieser Kante zu kleben. Nach und nach spürte ich, dass ich mich beruhigen konnte und der Adrenalinschub im Nachlassen begriffen war. Langsam konnte ich die gesamte atemberaubende Atmosphäre an diesem vollkommenen Pfeiler wieder wahrnehmen. Ein einzigartiges und sehr spezielles Spektakel, das ich dort erleben durfte. Ab nun war ich von einem Meer an Felsenneuland umgeben. Die letzten Versuche an der Kante endeten nämlich an dieser Stelle. Zurückgelassenes Material wie Karabiner, Haken und Friends zeugten davon. Bereits bis hier war es schon sehr abenteuerlich. Aber es sollte augenscheinlich noch weiter Male heikel werden. Mit vollster Konzentration widmete ich mich den nächsten Metern. Zu meinem Erstaunen gestalteten sich diese allerdings nicht ganz holprig, sondern ließen recht flüssiges Klettern entlang einer steilen Riss Spur zu. Darüber hinaus konnte ich zufriedenstellende Absicherungen anbringen. Es schien alles wieder optimal und nach Plan zu laufen. Der Fels war rau, griffig und fester als er zunächst aussah. Nach gut 25 Metern konnte ich einen sehr guten Standplatz einrichten. Nach bereits zwei gut versenkten Schlaghaken schlug ich noch einen Dritten. Der Stand war nahezu perfekt. Das Gelände war nicht mehr so extrem steil und schien stetig löchriger und griffiger zu werden. Die Schlüsselpassage der Route schien somit geknackt zu sein. Das Gestein geizte weder an unglaublicher Festigkeit noch an positiven Strukturen. Nach einen weiten Linksbogen konnte ich den nächsten Standplatz basteln. Der einzige Wermutstropfen war die komplizierte Absicherung entlang dieses Bogens. Das erste Mal nach Stunden konnte ich endlich wieder normal stehen und meinen Rücken entlasten. Welch eine Wohltat für das geschundene Rückgrat. Der Tag ging zu Ende und ich entschied vier Seillängen zu meinem deponierten Biwakzeug abzuseilen. Ich fixierte das Einfachseil und ein 6mm Materialschnur und seilte ab. Glücklicherweise erreichte ich das Biwakband. Lediglich zwei bis drei Meter waren vom Einfachseil noch übrig. Ich hatte an diesem Tag das Glück definitiv auf meiner Seite. Mit etwas Kreativität konnte ich bereits nach einer halben Stunde in einem recht bequemen Biwaknest Platz nehmen. Ich war mehr als zufrieden und nach einer guten nährhaften abendlichen Marende konnte ich bereits nach kurzer Zeit gut und tief schlafen. Auch das außergewöhnliche Flair inmitten des steilen Nordpfeilers zu übernachten kann man beruhigt als Privileg bezeichnen. Der Farben prächtige und spektakuläre Sonnenuntergang umrahmte dieses einzigartiges Bild nochmals. Ich konnte diese beeindruckenden Momente in vollen Zügen genießen. Weder Angst, Druck oder Nervosität hatten jetzt noch Platz in meiner Gedankenwelt. Nach einer ruhigen Nacht und nach einem kalten Kaffee kletterte ich an den fixierten Seilen hoch zum Rückkehrpunkt des Vortages. Gegen acht Uhr kletterte ich wieder ins Neuland. Eine ausgeprägte Verschneidung und ein fortlaufendes Risssystem zeigten mir den logischen Weg Richtung Gipfel. Voller Elan kletterte ich Seillänge um Seillänge und nahm gar nicht war, dass es mittlerweile leicht zur regnen begonnen hatte. Als der Regen intensiver wurde, entschied ich mich schließlich an einem gelben Überhang etwas Schutz zu erhaschen. Dort wartete ich circa eine Stunde lang. Es war zum Glück nur um einen kurzen lokalen Regenschauer. Voll motiviert und fokussiert stieg ich ab sofort direkt zum Gipfel weiter.

Zur Mittagszeit konnte ich den höchsten Punkt dieses imposanten nördlichen Marksteins der Dolomiten erreichen. Meine Gefühle und große Zufriedenheit in Wort zu fassen, gestaltet sich schwierig – Eine Mixtur aus großer Erleichterung, überschwänglicher Freude und grenzenlosen Glückseligkeit trifft es am besten.

Erstbegehung der Route "Die Auslese" © Simon Gietl

Routeninformationen

„Die Auslese“

 Erstbegeher: Simon Gietl

Schwierigkeit: IX-

Länge: 600m

Felsart: Dolomit

Ausrüstung: NAA, eventuell Auswahl an Haken und Hammer, 60m Halbseile

Zustieg: Vom Würzjoch bis zur Munt de Fornella, von dort schräg über die Almwiese, dann über Geröll zum Einstieg der offensichtlichen Kante

Abstieg: Über Normalweg