„Can you hear me? (8+/A2)“, Cima Scotoni, Fanesgruppe
Erstbegehung der "Can you hear me" © Simon Gietl
Simon Gietl steht am Gipfel. Kannst du mich hören? Die Frage gilt seinem Freund. Seinem Freund, dem er das Versprechen gegeben hat, sein Seilpartner zu sein bei einer neuen Linie an der Westwand der Cima Scotoni. Sein Freund kann nicht mehr dabei sein. Jetzt steht Simon am Gipfel der Cima Scotoni. Er hat sie solo, teils frei, teils technisch, eröffnet.
Nachtrag:
Nach der Solo-Erstbegehung im Sommer 2018, hielten mich die Gedanken an die freie Rotpunktbegehung ständig im Atem. Die steile Linie und das Vorhaben, sie an einem Tag sturzfrei zu klettern, gruben sich so tief in meinem Kopf, dass ich schon im Herbst 2018 glaubte, dass „wenn ich top motiviert und fokussiert an die Besteigung herangehe, kann ich die Route auch frei schaffen.“ Was ich damals allerdings noch nicht wusste war, dass sich die schwersten Stellen der Tour im zehnten Schwierigkeitsgrad bewegen. Ich benötigte also nicht nur eine riesige Portion an Motivation, sondern auch viel Geduld und Zeit, um die notwendige körperliche Fitness zu konditionieren. Insbesondere in der sechsten Seillänge muss man physisch in der Lage sein, die schweren Züge
so zu kontrollieren, dass das mentale Kartenhaus nicht zusammenfällt. Denn so wie die zwingend notwendige Körperspannung, müssen auch Moral und mentale Belastung der heiklen Situation gerecht werden. Beim ersten Auschecken der einzelnen Seillängen musste ich einsehen, dass das viele Radfahren für das North3 Projekt im Frühjahr 2018 seine Spuren hinterlassen hatte. Die allgemeine körperliche Verfassung war auf einen sehr guten Fitnesslevel, die erforderliche Fingerkraft und die Maximal- und Rumpfkraft dagegen schienen wie aufgelöst zu sein. Die vielen Trainingskilometer auf dem Rennrad hatten unweigerlich ihren Tribut verlangt. Geknickt, aber dennoch nicht demotiviert ließ mich die Route im Sommer 2018 abblitzen. Mit dem Gedanken, dass es irgendwann mit der „Can you hear me“ klappen wird, brach ich wie geplant im Spätsommer 2018 mit Thomas Huber nach Pakistan auf. Auf diese Weise war das Projekt “Can you hear me – free” erst einmal auf Eis gelegt.
Auch im darauffolgenden Jahr sollte die Zeit noch nicht ganz reif sein. Wettertechnisch gesehen, waren der Frühling und die ersten Wochen des Sommers mehr als suboptimal für die steile Südwestwand. Kühle Temperaturen, heftiger Regen und nur kurze Schönwetterperioden verhinderten, dass der linke Teil der Scotoniwand abtrocknen konnte. Da eine weitere Expedition nach Pakistan für Ende Juli geplant war, merkte ich ziemlich rasch, dass die Zeit knapp wurde. Dennoch stieg ich in die Route ein und versuchte, das Rätsel der sechsten Seillänge zu lösen. Der auffallende Dachgürtel im unteren Drittel der Wand zeigte mir relativ schnell die Zähne und ließ mich ein weiteres Mal abblitzen. Einsichtig, aber wissentlich, dass ich die Route nach gezieltem Training schaffen kann, traten wir den Rückzug an. Die freie Begehung der Route wurde für mich in 2020 mein zentrales Jahresprojekt. Nach vielen Saisonen mit wechselnder Trainingsplanung konzentrierte ich mich bereits Anfang des Jahres 2020 spezifisch auf den notwendigen Aufbau der Kraftausdauer, die für den erfolgreichen Durchstieg der gesamten Route Voraussetzung ist. Hinzu kam, dass ein Projekt in Brasilien, das ich mit Araon Durogati, einem Kollegen aus dem SALEWA-Athletenteam, geplant hatte, wegen Corona nicht stattfinden konnte. Insofern blieb nun noch mehr Zeit, sich voll und ganz dem Projekt an der Scotoniwand zu widmen. Meine Motivation und Konzentration richtete ich ab diesem Zeitpunkt nur noch auf die Besteigung. Neben dem sorgfältigen und systematischen Trainingsaufbau war der ideale Seilpartner für diese heikle Route ebenso wichtig. Die Route verlangt nämlich auch im Nachstieg gestählte Nerven und das technische Knowhow, um eventuelle, technisch verzwickte Seilmanöver durchzuführen. Mit meinem Bergführer-Kollegen Andrea Oberbacher hatte ich den berufenen Seilpartner gefunden. Mich überzeugten auch seine Ambitionen und seine positive Herangehensweise an das Projekt. In ernster Lage und in heiklen Momenten kann die Einstellung entscheidende Auswirkungen haben. Optimistisch und voller Tatendrang ging es also ein weiteres Mal zur Scotoniwand. Im Fokus stand wie bereits die vorigen Male die Schlüsselsequenz in der sechsten Seillänge. Ständig fragte ich mich, ob sich das straffe und zielbewusste Training auszahlen würde. In voller Erwartung, endlich die Finger an die kleinen Leisten zu pressen, stiegen wir zum Wandfuß empor. Wir waren bis zum Stand unter dem ausladenden Dach der sechsten Länge schnell unterwegs. Die acht Züge, die zunächst wie ein Wirr Warr an vielen Puzzleteile erinnerte, galt es nun geduldig und ohne Hektik aneinander zu reihen, um daraus eine möglichst sichere und logische Griff-und Trittkombinationen zu formen. Bei jedem Versuch verfeinerte ich die Griffabfolge und die dazugehörenden Trittbelastungen soweit, bis ich endlich eine brauchbare Sequenz zusammengebastelt hatte. Das Rätsel schien zunächst gelöst zu sein. Bereits an dem Tag freute ich mich ungemein, da ein Problem gelöst war, das mich beinahe schon zwei Jahre beschäftigte. Außerdem kletterte ich noch alle anderen Teilabschnitte, um mir die heikelsten Stellen nochmals anzuschauen und zu verinnerlichen. Den letzten und oberen Teil der Route nahm ich mit Jakob Steinkasserer unter die Lupe. Der junge und ambitionierte Kletterer aus Antholz war auf Anhieb von Ausgesetztheit und Steilheit der Route fasziniert.
Mitte August war es endlich soweit. Ich wollte jede Seillänge sturzfrei und an einem Tag aneinanderreihen. Die Bedingungen waren vorzüglich. Obwohl Andrea als Bergführer Mitte August in Dauerstress war, fand er Zeit, um mich an der Scotoniwand zu begleiten. Am Samstag den 15. August 2020 stiegen wir ein. Da wir bereits ahnten, dass es ein langer Tag werden würde, stiegen wir überaus zeitig zum Wandfuß auf und verzichteten auf den obligatorischen Café auf der Scotoni Hütte. Aber bereits in der dritten Seillänge sollte mein Nervenkostüm den ersten Dämpfer erfahren. Eine sehr delikate und heikle kaminartige Schuppe ließ kein flüssiges Klettern zu. Mehr Schinden als Klettern war angesagt. Neben einiger verzwickten Kletterbewegungen machten auch die mageren Absicherungsmöglichkeiten die numerisch nicht allzu schwere Seillänge zu einer sehr kurzweiligen Angelegenheit. Unser anfänglicher Optimismus schwand zunehmend. Die körperliche und mentale Tagesform schien den perfekten äußerlichen Bedingungen nicht gerecht zu werden. In der darauffolgenden Seillänge spitzte sich die prekäre Situation außerdem noch zu. Diese Seillänge verlangt sicheres Klettern im neunten Grad im ziemlich delikaten Gelände, also kein optimales Sturzgelände. Weite Abstände, gewagte Bewegungsabläufe und zweifelhaftes Gestein machen diese Seillänge zum ersten großen Bewährungstest. Einige Male entglitten mir die rutschigen und feuchten Griffe und nur mit viel Glück konnte ich den Körper kurz vor dem Wegkippen in eine stabile Position manövrieren. An der kritischsten Stelle dieser Seillänge schnappte ich nun von einem schlüpfrigen Griff hoch zur letztendlich entscheidenden Leiste. Als ich diesen Zug trotz Stress und voller Adrenalin schaffte, war mir klar, dieses Glück kann jetzt bestimmend und wegweisend für den Rest der Route sein. Vielleicht war es auch das Wissen, dass perfekte Bedingungen herrschten und mein Seilpartner Andrea sich während des Höhepunktes der Feriensaison Zeit genommen hatte, es also demnach nur an mir scheitern konnte. Am Standplatz merkte ich, welch großen Druck ich mir selbst auferlegt hatte. Bevor sich negative Gedanken breit machen konnten und eine sich daraus entwickelnde Spirale meine Kletterbewegungen womöglich sogar bremsen konnte, versuchte ich mich taktisch abzulenken. Um mich mental und moralisch zu beruhigen, putzte ich nochmals sorgfältig die Griffe der folgenden Schlüsselseillänge. Außerdem testete ich ein wiederholtes Mal die schwersten Griffabfolgen. Dies erschien mir an diesem Tag kaum noch möglich. Ein Blick auf die Uhr zeigte , dass der Moment gekommen war, die schwere Seillänge Rotpunkt in Angriff zu nehmen. Gegen halb zwölf startete ich den alles entscheidenden Go. Der Erfolgsdruck und die lähmenden Kletterbewegungen schienen wie weggeblasen zu sein. Auf einmal fühlte ich das erste Mal an diesem 15 August einen Hauch von Leichtigkeit und Flow. Nachdem ich die ersten Griffe im richtigen Timing anschnappen und halten konnte, wichen Unsicherheit und Hektik. Verhältnismäßig stabil konnte ich die letzten alles entscheidenden Züge am weit ausladenden Dach durchziehen und den rettenden Henkel zuschrauben. Nun wusste ich, dass mich diese Seillänge nicht mehr abwerfen wird. Die weitaus schwierigste und kraftraubenste Stelle war nun in freier Kletterei geknackt. Euphorisch kletterte ich bis zum Standplatz. Ein lautstarkes „Stand!!!!” signalisierte Andrea, dass er sich rasch für den Nachstieg bereit machen sollte. Während Andrea nachstieg, kauerte ich mich hin zum Kräftedreieck am Stand und legte meinen Kopf müde aber erleichtert auf das bleiche Dolomitgestein. Einige Minuten in dieser Position verharrend richtete ich einige Gedanken an meinen Freund Gerry. Mir war sicher, dass er uns nicht nur zuschaute, sondern auch in den wesentlichen Momenten eine mentale Stütze war. Am Standplatz nach der siebten Seillänge gratulierte mir Andrea zur freien Begehung. Uns beiden war allerdings auch klar, dass uns noch weitere 14 Seillängen bis zum Gipfel fehlten. 14 ziemlich heikle und teils auch sehr ernsthafte Seillängen, die keine großen Fehler oder Unachtsamkeit verzeihen. Wir durften auf keinen Fall unsere Konzentration und Spannung verlieren. Vom großen Erfolgsdruck befreit, gestalteten sich diese Seillängen aber nicht mehr so Nerven zermürbend wie die dritte und sechste Seillänge. Seillänge für Seillänge konnten wir relativ problemlos abspulen und der Eintages-Rotpunktbegehung sollte nichts Nennenswertes mehr im Wege stehen. Der Druck wich Gelassenheit und das zögerliche Klettern wurde von flowigen Bewegungsabläufen abgelöst. Kurz vor dem Gipfelausstieg schaute ich auf die Uhr. Zeitlich noch im grünen Bereich nahm ich die letzte Seillänge in Angriff. Unsere große Freude mischte sich mit einer großen Dosis Demut zu einer speziellen Mixtur. Die Freude es endlich rotpunkt geschafft zu haben und die Erkenntnis, damit nun der Schlussstrich unter ein großes Projekt, das mich über mehrere Jahre innigst beschäftigt hatte, zu ziehen, fühlten sich ziemlich widersprüchlich an. Als wir zwei am Ausstieg saßen und uns zufrieden in die Arme nehmen konnten, waren unsere Gedanken auch bei Gerry. Er war Freund, Seilpartner und Ideengeber dieser Linie, die er selber leider nicht mehr klettern konnte. Es war eine andere Stimmung wie üblicherweise nach einer erfolgreichen Kletterei. Ich schenkte meinen Freund Gerry diesen speziellen Moment am Gipfel. Ohne viel zu reden, genossen wir noch für einige Minuten den eindrucksvollen Weitblick und versprachen Gerry, dass er uns stets in Erinnerung bleiben wird. Seine Art, sein Lächeln und sein Wesen soll mit dieser Linie an der Scotoniwand, die er vor einigen Jahren in seinem Kopf bereits gezeichnet hatte, am Leben gehalten werden. Die Antwort auf die Route lautet Ja. Wir waren uns sicher, dass uns Gerry hören konnte.
Erstbegehung der "Can you hear me" © Simon Gietl
Routeninformationen
Route: „Can You Hear Me“
Erstbegeher: Simon Gietl
Schwierigkeit: 10-
Absicherung: Die verwendeten Haken wurden belassen, es wurden keine Bohrhaken verwendet. 1 Serie Friends